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Urlaub in der Ukraine – geht das überhaupt noch?

Der Krieg im Osten der Ukraine ist das, was die meisten mit dem Land momentan verbinden. Von den Konflikten ist in Lemberg und Kiew aber wenig zu spüren. Momentaufnahmen aus einem bewegten Land.
Unesco-Erbe: Das historische Kiewer Höhlenkloster erhebt sich stolz vor der modernen Skyline Unesco-Erbe: Das historische Kiewer Höhlenkloster erhebt sich stolz vor der modernen Skyline
Unesco-Erbe: Das historische Kiewer Höhlenkloster erhebt sich stolz vor der modernen Skyline
Quelle: Moment Open/Getty Images

Die Schlange zum Cafe „Kryjiwka“ im Herzen der Stadt Lemberg, die auf Ukrainisch Lwiw heißt, könnte mit der vor dem „Curry 36“ in Berlin oder „L’Antica Pizzeria da Michele“ in Neapel konkurrieren. Dreißig Meter lang kann sie werden, vor allem an einem Samstagabend wie diesem.

„Kryjiwka“, so nennt man hier die Bunker, die die Kämpfer der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) im Zweiten Weltkrieg errichtet haben. Das berüchtigte Lokal, das diesen Namen trägt, ermöglicht es Besuchern, sich in die Zeit der UPA zu versetzen, als Lemberg zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion zerrissen war.

Alles hier läuft nach festen Ritualen ab: Um hereingelassen zu werden, muss man an der Tür eines Hinterhofhauses klopfen, und wenn daraufhin ein schnauzbärtiger Soldat mit Sturmgewehr das Sichtfenster aufmacht und „Slawa Ukrajini!“ („Ruhm der Ukraine!“) sagt, muss man „Herojam slawa!“ („Ruhm den Helden!“) antworten. Nur wer die Parole kennt, wird mit einem Gorilka empfangen, ukrainischem Wodka, und in einen Keller hinabgeführt, in dem sich Feldküchengerüche und Live-Musik miteinander vermischen.

Plötzlich wird es unruhig in der Schlange, ein alter Mann in einem dunkelblauen Mantel drängelt. Man solle ihn vorlassen, sagt er, weil sein Sohn, 27 Jahre alt, im Sommer 2014 in der Ostukraine gefallen sei. Für die Damen, die vorne stehen, ist dies kein Argument. Sie sagen ihm, er solle sich bitte wie alle anderen anstellen – auf Russisch, aber mit ukrainischem Akzent.

Der alte Mann schüttelt den Kopf: „Wann lernen Sie endlich Ukrainisch, die Sprache, die uns als Nation einzigartig macht?“ Die Frauen kichern. Dann öffnet sich das Sichtfenster wieder, der schnauzbärtige Wärter mischt sich ein. „Nein, nein, nein. Ich lasse Sie nicht rein“, sagt er zu dem alten Mann, „Sie haben sich bei uns schon öfter schlecht benommen.“

In der Ukraine ist die Vergangenheit lebendig

Das Samstagabend-Publikum scheint unbeeindruckt, doch die Szene erweckt ein Gefühl, dem sich kaum ein Ukraine-Reisender entziehen kann: Überall scheint die Geschichte in die Gegenwart zu sickern. Vergangenheit ist etwas sehr Lebendiges in diesem Land, das sich selbst zu suchen scheint.

Im „Kryjiwka“ wird die Erinnerung an die UPA in einer folkloristischen, etwas kitschigen Form erfahrbar gemacht. Woanders ist sie ein kontroverses Kapitel der ukrainischen Geschichte.

Zwar steht der Kampf der Partisanenarmee um die Unabhängigkeit der Ukraine außer Frage, doch der Ruf ihrer Kämpfer wird auch von unangenehmen Tatsachen überschattet. Im Zweiten Weltkrieg hat die UPA eine Zeit lang mit den Nazis kollaboriert, in der vergeblichen Hoffnung, die würden den ukrainischen Staat anerkennen.

Lemberg in der Ukraine
Die Charakterzüge einer interkulturellen Stadt, die Lemberg jahrhundertelang war, spiegeln sich in der Architektur wider
Quelle: Getty Images/Moment RF

Die Stadt Lemberg mit ihren fast 800.000 Einwohnern liegt ganz im Westen der Ukraine, nur 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Geht man auf ihren Straßen spazieren, fühlt sie sich mitteleuropäisch an. Ihre österreichische und polnische Vergangenheit ist allgegenwärtig.

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Auch viele Juden haben vor dem Zweiten Weltkrieg hier gelebt. Etwa 150.000 von ihnen wurden von den Nazis ermordet. An diese Tragödie erinnert seit Herbst 2016 eine neue Gedenkstätte. Wo früher die 1941 zerstörte Goldene-Rosen-Synagoge stand, sind nun Gedenktafeln mit Zitaten jüdischer Einwohner der Stadt. Das Fehlen der Synagoge selbst wirkt wie ein Mahnmal, das an den Verlust der jüdischen Kultur erinnert, an den Tod und die schrecklichen Kriegsjahre.

Der Krieg ist in Lemberg weit weg

Durch die kleinen Gassen in Lemberg zieht der Geruch von Kaffee, der hier seit der Habsburgermonarchie beheimatet ist. Die Charakterzüge einer interkulturellen Stadt, die Lemberg jahrhundertelang war, spiegeln sich in der Architektur wider: mittelalterliche Kathedralen, viele Häuser im Stil von Barock und Renaissance, außerhalb vom Zentrum auch sowjetische Plattenbauten.

Es wird überwiegend Ukrainisch gesprochen, aber man hört auch Russisch, Polnisch, Jiddisch, Deutsch und Englisch auf der Straße. Von Jahr zu Jahr gelingt es Lemberg, immer mehr Touristen anzulocken. „Weltoffen“ heißt das Motto der Stadt seit 2007, und dieses Wort trifft die Stimmung tatsächlich gut.

Ein etwas ungewöhnliches Souvenir: Toilettenpapier mit Wladimir Putins Konterfei
Ein etwas ungewöhnliches Souvenir: Toilettenpapier mit Wladimir Putins Konterfei
Quelle: Inga Pylypchuk

Weit weg ist hier der Krieg, der im Osten der Ukraine tobt. An ihn wird man hier nur ab und zu beim Anblick von uniformierten Soldaten erinnert, die von der Front zurückkehren oder sich auf den Weg dorthin machen. Oder an den Souvenirständen, wo man Toilettenpapier mit Wladimir Putins Konterfei kaufen kann. Auf diese humorvolle Weise versuchen die Ukrainer, den Feind im Alltag zu bekämpfen.

Austausch von Jugendlichen zum Thema Atomenergie

Von Lemberg in die Hauptstadt Kiew kommt man am besten mit einem modernen Expresszug, der nur fünf Stunden dorthin braucht. Mit ihm reist auch eine deutsch-ukrainische Gruppe, die aus 14 Teilnehmern besteht. Ihr Leiter, Enrico Deege, 45 Jahre alt, kommt aus Görlitz und ist Jugendsozialarbeiter.

Für 80 Euro in die apokalyptische Sperrzone

Der Unfall im ukrainischen AKW Tschernobyl ist neben Fukushima der größte Atom-Gau der Geschichte. Ein riesiges Areal wurde radioaktiv verseucht. Heute ist das Gebiet ein schauriger Touristenmagnet.

Quelle: Die Welt

Bereits in den 90er-Jahren, als die Sowjetunion gerade aufgelöst und die Ukraine unabhängig geworden war, hat Deege Erholungsreisen für Tschernobyl-Kinder organisiert. Nun begleitet er ein deutsch-ukrainisches Jugendprojekt in der Ukraine: „Radioaktivität kennt keine Grenzen – 30 Jahre Tschernobyl“.

Es bringt deutsche und ukrainische Jugendliche zum Thema Atomenergie zusammen. Man lernt sich kennen, besucht das Kiewer Tschernobyl-Museum, tauscht sich aus. Die Ergebnisse des Projekts werden in einer Ausstellung präsentiert.

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„Ich bin selbst ein Kind des Ostens,“ sagt Deege. „Ich weiß noch, wie wir uns in der DDR über die Pakete aus Westdeutschland freuten. Als die Mauer fiel, wusste ich, dass nun wir an der Reihe sind. Ich wollte den Wandel mitgestalten. Dort sein, wo er spürbar war: in Krakau, Prag, Kiew.“

Er überredete Freunde, mit ihm in die Ukraine zu fahren, heute kommen deren Kinder mit. Etwa der 16-jährige Elias aus Görlitz. „Es ist toll, wie schnell wir uns mit den Ukrainern verstanden haben. Obwohl wir uns meist auf Englisch unterhalten, gibt es gar keine Probleme“, sagt er.

In Kiew lohnt ein Spaziergang durch die hügelige Altstadt

Die Gruppe übernachtet in Kiew in der Nähe der Hauptstraße Chreschtschaty. Der von prächtigen stalinistischen Bauten und Kastanienbäumen gesäumte Boulevard führt direkt auf den Maidan. Auf Ukrainisch bedeutet der Name schlicht: Platz. Jener Platz, der 2013 durch die Proteste weltweite Berühmtheit erlangte.

Auch hier ist die Stimme der Geschichte lebendig. Ein junger Mann, der gerade Spenden für die ukrainische Armee sammelt, erzählt der Gruppe von seinen Erlebnissen als Teilnehmer der Maidan-Revolution. Er zeigt auf das Dach des Hotels „Ukraine“, von dem damals Scharfschützen in die Menge schossen. Um ein Haar sei er dem Tod entkommen.

Auf dem friedlichen Maidan von heute, auf dem die Menschen entspannt flanieren und Fotos machen, klingt diese Erzählung wie aus einem Film. Aber die Rede ist von realen Ereignissen, die gerade einmal drei Jahre zurückliegen.

Am Ufer des mächtigen Flusses Dnepr, der durch Kiew fließt, gibt es auch Strand
Am Ufer des mächtigen Flusses Dnepr, der durch Kiew fließt, gibt es auch Strand
Quelle: The Image Bank/Getty Images

Vom 9. bis zum 13. Jahrhundert war Kiew die wichtigste Stadt des mittelalterlichen Vielvölkerstaates Kiewer Rus, der vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee reichte. Ein besonderes Erbe ist das Kiewer Höhlenkloster, eines der ältesten russisch-orthodoxen Klöster überhaupt. Heute ist Kiew eine moderne, pulsierende Drei-Millionen-Stadt, in der ständig neue Wohnbezirke entstehen.

Besonders schön für lange Spaziergänge bleibt aber die hügelige Altstadt mit ihren vielen Cafés, Boutiquen und Parks. Und natürlich die Ufer des mächtigen Flusses Dnepr. Zwar ist es angesichts der Wasserqualität nicht empfehlenswert, hier zu baden, aber die Promenaden, Brücken, Strände und Bars verleihen Kiew vor allem im Frühling und Sommer einen südlichen und romantischen Charakter.

Welche Orte Urlauber meiden sollten

Das Lieblingscafé der deutsch-ukrainischen Gruppe ist „Puzata hata“, eine ukrainische Imbisskette. Hier bekommt man traditionelle Gerichte wie Bortsch (Rote-Bete-Suppe mit Kartoffeln und Fleisch), Wareniki (Teigtaschen mit Kohl, Fleisch oder Früchten) und mehr zu günstigen Preisen. In den letzten Jahren haben auch viele gute Restaurants mit klassischer europäischer Küche geöffnet.

Schwerer zu finden sind fernöstliche Lokale in Kiew, dafür gibt es aber eine gute Auswahl georgischer, usbekischer und jüdischer Cafés. Durch die krisenbedingte Abwertung der ukrainischen Währung Hrywnja ist Reisen in der Ukraine gerade jetzt für ausländische Besucher sehr preiswert.

Zum Aufwärmen zwischendurch: Schnapsverkostung in Lemberg
Zum Aufwärmen zwischendurch: Schnapsverkostung in Lemberg
Quelle: Inga Pylypchuk

Doch kann man überhaupt in einem Land Urlaub machen, das Krieg führt und gegen eine existenzielle Krise kämpft? Die Ukrainer selbst sehen es locker. Petro, 24, der Organisator der gemeinsamen Reise auf ukrainischer Seite, beantwortet diese Frage so: „Ich freue mich immer, wenn ausländische Touristen kommen. Es ist ein Zeichen dafür, dass sie sich für mein Land interessieren. Und so erfahren sie mehr darüber, wie die Situation wirklich ist. Das ist gut für uns alle.“

Vermeiden sollte man allerdings Reisen auf die von Russland annektierte Halbinsel Krim und in die Gebiete Donezk und Lugansk, vor allem in die Zone der sogenannten Anti-Terror-Operation im Osten der Ukraine, die etwa sieben Prozent der Gesamtfläche des Landes ausmacht. Andere Städte im Osten des Landes wie etwa Charkiw gelten als sicher und sind auch touristisch interessant. Im Süden ist die Stadt Odessa am Schwarzen Meer besonders sehenswert.

Quelle: Infografik Die Welt

Tipps und Informationen

Anreise: Von mehreren deutschen Städten gibt es Nonstop-Flüge nach Kiew, beispielsweise ab München oder Frankfurt mit Lufthansa oder mit Ukraine International Airlines unter anderem auch ab Berlin oder Düsseldorf. Außerdem gibt es Zug- und Fernbusverbindungen. Von Kiew weiter per Expresszug nach Lemberg (Lwiw).

Unterkünfte in Lemberg: „Leopolis Hotel“, 5-Sterne-Haus mit Bar und Bibliothek im Herzen der Stadt, 100 Meter vom Hauptplatz Ploschtscha Rynok in der Nähe des Opernhauses, Doppelzimmer mit Frühstück ab 93 Euro, leopolishotel.com; „Apart-Hotel Horowitz“, ein kleines nettes Hotel in einem historischen Gebäude, sehr zentral, Doppelzimmer ohne Frühstück ab 44 Euro, Juniorsuite mit Frühstück ab 50 Euro, horowitz.com.ua;

Unterkünfte in Kiew: „Radisson Blu Hotel Kyiv“, gehobenes 4-Sterne-Haus in einem Baudenkmal im historischen Zentrum, nahe dem 1024 erbauten Goldenen Tor, zentral, aber ruhig, Doppelzimmer ohne Frühstück ab 191 Euro, radissonblu.com; „Ibis Kiev City Center“, ein bescheidenes, aber sauberes 3-Sterne-Haus, schöne Lage unweit vom Botanischen Garten und Universität, Doppelzimmer ab 58 Euro ohne Frühstück, ibis.com

Auskunft: traveltoukraine.org; Kiew: visitkyiv.com.ua; Lemberg: lviv.travel; touristinfo.lviv.ua

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ). Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter axelspringer.de/unabhaengigkeit.

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